Diehl with it
Unter allen Makers und Shakers unserer Zeit spielt Katja Diehl eine besondere Rolle. Sie denkt nicht nur green, sie denkt nicht nur purple, sie denkt alle zusammen: Ihr Ansatz ist intersektional und prozessorientiert. Sie plädiert für lebenswerte, menschengerechte Lebensräume, kämpft gegen die Verödung und Verzwecklichung öffentlicher Flächen und für die Mobilitätswende. Nicht nur Antriebe sollen neu gedacht werden, sondern die menschlichen Bedürfnisse, die dahinterstecken. Kein Ausblick, sondern ein Denkanstoß: Pünktlich zum Jahresanfang haben wir uns mit der Bestsellerautorin und Podcasterin zum Thema Utopie unterhalten.
Wie exklusiv sind Utopien? Wie inklusiv sind Utopien? Utopie heißt ja nicht gleich Träumerei. Vielmehr müssen wir für jegliche Utopie lernen, den Status quo zu hinterfragen. „Leute müssen den Status quo aus dem Kopf kriegen“, sagt Katja Diehl und hat dazu ein Beispiel: „Bitte denken Sie daran, dass wir bei diesem Konzept aber alle mitnehmen müssen“, sagt jemand zu ihr bei einer Konferenz. Mitnehmen heißt hier also abholen. Und sie denkt sich: „Wollt ihr mich veräppeln? Wir haben doch schon längst nicht mehr alle dabei?!“ Alle heißt wirklich alle, nicht den Umständen entsprechend und nach bestem Wissen und Gewissen so gut wie alle. Intersektional zu denken, heißt lösungsorientiert und maximal unignorant zu denken – also wirklich inklusiv.
„Meine Utopie ist nicht nur die Mobilitätswende, sondern sie beinhaltet viele Wenden.“
Menschen ziehen so zahlreich aufs Land, wie seit 1994 nicht mehr, um dem Stress der Stadt zu entfliehen. Tatsächlich leben wir statistisch nachweislich in einer Ära der Stadtflucht. Nicht erst seit der Pandemie, aber dadurch wurde definitiv noch eine Schippe nachgelegt, sagt Katja. „Viele der Punkte, die in einer Stadt Verbesserung bedeuten, liegen in der Vergangenheit der Stadt: Städte waren Handelsorte, Begegnungsorte. Man konnte sich in den Innenhöfen begegnen, in den Treppenhäusern. Heute gehst du nur noch auf die Straße, wenn du einen Grund hast. Was einst die Funktion hatte, dass sich Menschen im echten Leben begegnen und austauschen, ist heute nicht mehr da oder wird nicht mehr dafür genutzt.“
Wir wollen wissen: Was treibt dich an, deine Utopien zu leben? Sind deine Utopien Blaupausen und Vorbilder für die Wirklichkeit?
Katja: „Meine Utopien sind eigentlich gar keine Utopien. Die sind sogar sehr rational, die Abwehr meines Standpunktes hingegen ist irrational, wird aber genau andersherum geframet.“ Da, wo Menschen also ihre Komfortzone verlassen müssen, um den Status quo zum Besseren zu wenden, muss immer mit Irrationalität gerechnet werden.
„Ich bin aber überzeugt davon, dass Utopien immer mehr Gewinn als Verlust bedeuten, wenn sie von einer heterogenen Gruppe gezeichnet werden. Die Welt, in der wir aktuell leben, ist auf den weißen Cis-Mann ohne Behinderung ausgelegt. Das ist quasi der Status quo unserer Norm, aber deshalb ist meine Arbeit intersektional: An dem Tisch, an dem meine Utopie skizziert wird, sitzen Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben, Menschen mit Behinderung, mit verschiedenen Bildungshintergründen und so weiter. Einfach mal ein echtes Abbild der Gesellschaft. Es ist also auf jeden Fall ein Ergebnis, das nicht schlechter wäre als unser Heute – obwohl unser Heute trotzdem als gut verkauft wird“, holt Katja aus.
Es braucht also beides: Utopien und Sehnsuchtsorte, wo wir gerne sein würden. Und bei allem Realismus braucht es auch den Mut, Dinge auszuprobieren und aus diesem trial and error zu lernen. These und Antithese ergeben eine Synthese, und nur so kann man sich in Richtung Wahrheit vorarbeiten. Das bedeutet aber gleichzeitig auch Entschlossenheit und Tatkraft, wirklich einfach mal zu machen.
„Los, ein kurzes Ratschen, keine Furcht – einfach ab mit dem Pflaster. Das tut erst mal weh und ist auch nicht sofort wieder gut, aber man hat den Effekt der Erleichterung.“
Die Schweizer Schriftstellerin Brigitte Fuchs hat gesagt: „Immer bauen wir bloß Luftschlösser – warum denn nicht auch Häuser, Gärten und einen luftigen Friedhof.“ Wie steht Katja Diehl dazu?
„Ich denke, dass es Luftschlösser braucht, um die Köpfe zu öffnen. Ich stelle fest, dass kleinste Veränderungen hinterfragt werden, aber nie der Status quo. Ein Beispiel? E-Scooter. Die sind nicht der Teufel, die sind nicht das Problem: Wir haben nur 300.000 davon, daneben aber 49 Millionen Autos. Ergo: Kommunikation muss in jeglicher gesellschaftlicher Transformation eine tragende Rolle spielen.“
Letzte Frage: Um eine Utopie zu entwerfen, muss man vom Maximum ausgehen. Was braucht man, um eine Realität zu entwerfen?
Da wird Katja fast zur Prophetin: „Das ist spannend, denn Wandel hat so viele Nebeneffekte: Es passiert wortwörtlich so viel Positives links und rechts des Weges – zum Beispiel beim Umbau von städtischer Infrastruktur. Da sind die Begegnungen zwischen den Häusern, die Entschleunigung, das Neudenken von Arbeit, von Quartieren – vom Urlaubsbedürfnis letztlich. Eine neue Realität vor der eigenen Haustür beinhaltet noch viel mehr Versprechen, nicht nur rein verkehrliche und mobilitätsgetriebene. Eine Strahlkraft, die sich auf alle Lebensbereiche auswirkt. Das bedeutet auch Raum für Menschen – die Chance, dass Menschen in ihrem Alltag einfach genau so sein können, wie sie wirklich sein möchten. Dadurch würde auch eine gewisse Grundaggression aus der Gesellschaft weichen.“