Mehr Mut zur Mitte

Julia Erdmann ist eine gefragte Stadtgestalterin. Eines Ihrer Spezialgebiete: Innenstädte neu beleben. Ein Gespräch über den Niedergang unserer Stadtkerne und darüber, wie man sie in Zukunft gestalten kann.

Frau Erdmann, die Art und Weise, wie wir einkaufen, wohnen und uns in Städten bewegen, verändert sich. Welche Entwicklungen haben insbesondere unsere Innenstädte in den letzten Jahren geprägt?

Lange Zeit wurden Innenstädte rein funktional betrachtet. Man hört es schon an den Bezeichnungen: „Central Business District“, „Verwaltungszentrum“ oder „Einkaufsstraße“. Viele Innenstädte sind heute im Grunde genommen ein einzigesOpen-Air-Shoppingcenter. Shoppen, im Büro arbeiten oder ins Theater gehen – das sind oft die einzigen drei Anreize, die deutsche Innenstädte bieten. Das ist viel zu wenig! Nach Ladenschluss sind sie dann wie ausgestorben. Nach einer goldenen Regel braucht es mindestens neun verschiedene Aktivitäten, damit ein Ort 24/7 lebt und funktioniert. Durch diese Monokultur hat das Stadtzentrum über Jahre hinweg an Resilienz verloren und steht strukturell auf wackeligen Füßen.

Dann kommt Corona: Viele Händler müssen schließen, die Gastronomie kämpft. Inwiefern verschärft die Pandemie noch die akute Situation?

Die Corona-Zeit macht die monostrukturelle Entwicklung der letzten Jahrzehnte jetzt so richtig deutlich: In den meisten Innenstädten gibt es kein Alltagsleben, keine Wohnungen, keine Nachbarschaften. Außerdem hat der Handel in den letzten Jahren einen hohen Sättigungsgrad erreicht. Irgendwann braucht niemand noch mehr Bekleidungsgeschäfte in der Innenstadt. In Hamburg befinden sich zum Beispiel im Umkreis von einem Kilometer rund um die Mönckebergstraße vier H&M-Filialen. Er herrscht ein Überangebot am Gleichen.

Trägt der Internethandel Schuld am Sterben von Innenstädten?

Der Internethandel ist nur eine Ursache. Die Gründe sind vielschichtig. Klar, mehr Leute bestellen mittlerweile online. Der Umsatz wird nicht mehr allein im Shop gemacht und er ist nicht mehr so hoch wie vor ein paar Jahren. Die Aktivität „Kaufen“ ist unabhängig von der Innenstadt geworden. Vielen Marken und Händlern fällt es schwer, die Lage zu halten und die horrenden Mieten zu bezahlen. Ein Indikator für den Niedergang einer Innenstadt ist die Dichte an Handy-Läden und Ein-Euro-Shops. Erstere können sich die hohen Mieten noch leisten, Letztere sorgen dafür, dass sich Marken von Qualität nicht mehr ansiedeln. Ein Teufelskreis!

Werden Innenstädte somit zwangsweise noch austauschbarer?

Ja. Es gibt dazu ein modernes Gleichnis: Zwei Leute wollen sich verabreden: zwischen Zara und Douglas bei Starbucks. Später stellt sich heraus, dass die beiden Personen zwar im gleichen Coffeeshop sitzen, aber jeweils in einer anderen Stadt. Die Globalisierung hat zu mehr Gleichmacherei im Stadtbild geführt, statt zur gewünschten Vielfalt vor Ort. Das sollte sich jetzt endlich ändern.

Mit ihrem Ansatz „Placemaking“ wollen Sie Innenstädte neu beleben. Wie war bei einem Ihrer Projekte in Bremen die Ausgangssituation?

Auch in Bremen zieht es die Leute zum Einkaufen zunehmend ins Internet oder in die Shoppingcenter am Stadtrand, während die Mitte verödet – der sogenannte Donut-Effekt. Die Einkaufsstraßen sind weder für Händler noch für Besucher interessant. Nun liefen Mietverträge aus, die Gebäude von Karstadt und Kaufhof sollten umfunktioniert werden – der Bedarf ist jetzt noch aktueller als vor zwei Jahren.

Warenhäuser, die in ganz Deutschland die Innenstadt prägen …

Ja, in Bremen wurden sie über mehrere Straßen hinweg gebaut. Allein die Hälfte der Erdgeschosse sind unbrauchbare Rückseiten mit Einfahrten und Anlieferzonen. Hinzu kommt in Bremen noch ein überproportional großes Parkhaus, das Gegenteil einer Stadtstruktur, die für den menschlichen Maßstab ausgerichtet ist. Die Stadt wollte das Parkhaus an den Eigentümer des benachbarten Karstadt-Gebäudes verkaufen. Der Unternehmer Kurt Zech erkannte in der Situation eine „Jahrhundertchance für Bremen“: Bevor Gebäude abgerissen und neue gebaut werden, sollte sich die Innenstadt erst mal neu erfinden. Er hat damit den Weg gewiesen für eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Stadtmitte von Bremen.

Dann kamen Sie ins Spiel, mit ihrem eigens entwickelten Verfahren der „Ideenmeisterschaft“. Wie lässt sich damit eine Innenstadt retten?

Es geht darum, eine Frage gemeinsam zu meistern: Was ist unsere Vision für die Innenstadt? In diesem Fall für die „Mitte Bremen“. Absolut keine triviale Frage! Sie kann nur aus viele Perspektiven heraus beantwortet werden: von Bürgern, Politikern, Eigentümern und Unternehmern. In der Stadtplanung gibt es bisher kein Format, dass interessenübergreifend nach Antworten sucht. Eine Behörde kümmert sich um den Verkehr, ein Ressort stellt Baugenehmigungen aus, Architekten entwerfen dann ein Gebäude. Dabei beeinflusst das eine auch das andere. Für die Neugestaltung der Innenstädte brauchen wir neue Kollaborationen und deshalb auch neue kollaborative Verfahren, wie etwa die Ideenmeisterschaft.

Wie ging es in Bremen weiter?

Mitten in der Bremer Innenstadt, im Herzen des Geschehens, haben wir eine Meisterschaft für Ideen ausgerichtet. Dafür haben wir Architekten, Immobilienexperten, Gastronomen, Kulturmacher und Gründer aus Bremen und anderen Städten wie etwa Graz und Kopenhagen eingeladen. In einer Woche entwickelten wir co-kreativ in fünf gemischten Teams Lösungen für die Zukunft der Bremer Innenstadt. Sechs Bereiche haben wir miteinander verknüpft: Identität, Handel, Verkehr, Nutzungsmix, Architektur und Städtebau. Herausgekommen sind unterschiedliche strategische Ansätze, die einen Grundstein dafür legen, dass Innenstadt mehr sein kann als Einzelhandel und Parkplätze.

Was beinhalteten die Vorschläge konkret?

Eine unserer Kernfragen war: Was ist typisch Bremen? Und genau da setzen die Vorschläge an. Ein Beispiel: Bremen hat schon immer Import und Export betrieben. Im Gegensatz zu Hamburg wurden in Bremen die Waren auch weiterverarbeitet. Bremen hat etwa eine große Tradition in der Veredelung von Genussgütern wie Kaffee, Tee oder Schokolade. Was wäre, wenn man den Bogen jetzt weiterspannt? Die Zukunft der Ernährung und die Verarbeitung von Lebensmitteln sind Megatrends unserer Zeit. Ein Vorschlag sah also vor, die Innenstadt auf genau diese Themen auszurichten. „Mitte Bremen“ kann für Genuss und Veredelung von Lebensmitteln im 21. Jahrhundert stehen. Das bedeutet: neue Produktionsorte im Stadtkern ansiedeln, gläserne Manufakturen etablieren, das gastronomische Angebot erweitern.

Welche Vorschläge wurden noch entwickelt?

Ein anderes Team hat herausgehoben: Bremen ist eine Handelsstadt. Handel ist in der DNA der Stadt eingeschrieben. Sie haben vorgeschlagen, das Konzept von Co-Working zu erweitern in Richtung Co-Trading. Die ganze Innenstadt soll zu einem Raum werden, wo man für alle denkbaren Arten, Handel im 21. Jahrhundert zu treiben, die besten Rahmenbedingungen in ganz Deutschland findet. Dabei können sich die Einzelhändler in der Innenstadt mithilfe einer gemeinsamen digitalen Plattform zusammenschließen, Synergien bilden, neue Lieferdienste anbieten etc. Interessanterweise passiert jetzt genau das in einigen Innenstädten. Die anderen Teams führten Charakteristiken der Stadt weiter: Bremen als Bürgerstadt, Bremen als familiäre, wohnliche Stadt, Bremen als Stadt mit Attraktionen. Das Besondere an all diesen Vorschlägen ist, dass sie immer ein identitätsstiftendes Merkmal herausarbeiten – und es direkt neu verhandeln.

Das Ziel ist also, den Kern einer Stadt wiederzuentdecken?

Jede Innenstadt sollte nicht nur räumlich das Zentrum sein, sondern auch inhaltlich. Jede Stadt ist einzigartig, wie jeder Mensch einzigartig ist. Eine Innenstadt zu gestalten, heißt somit, das Individuelle herauszuarbeiten; Identität zu schaffen; die Biografie, Geschichte und Zukunft einer Stadt erlebbar zu machen. Wirtschaftlich gesprochen: Das Ziel ist es, den Stadtkern zum Markenkern einer Stadt zu entwickeln.

Welche Schritte und Strategien sind dazu nötig?

Die Innenstadt geht uns alle an! Wir müssen begreifen, dass alles zusammenhängt und alle betroffen sind, wenn die Innenstadt verödet. Es kann daher auch nicht die eine Instanz geben, die „Innenstadt macht“. Wir brauchen jetzt einen Rundumblick statt Einzelinteressen. Wir brauchen neue Kollaborationen, um die Innenstädte neu zu beleben. Das alte Ressortdenken steht dem genauso im Weg wie rein finanzielle Immobilieninteressen. Eine wertvolle Innenstadt gelingt nur, wenn Stadtverwaltung, Politik, Eigentümer, Unternehmen und Endnutzer kollaborieren. Wenn die Innenstadt floriert, profitieren alle davon. Zudem brauchen wir jetzt mehr Experten, die strategisch beraten, eine Stadt feinfühlig „lesen“ und sie mutig gestalten können. Man stelle sich eine Beratung vor, die sogar Marken und Händlern Empfehlungen ausspricht, ihre Dienstleistungen, Produkte und die Einrichtung auf den Charakter der Stadt abzustimmen. Das mag alles noch unwahrscheinlich klingen – aber gerade jetzt ist die ideale Zeit dafür, Innenstädte neu zu gestalten.

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