Mehr Polis für den gesellschaftlichen Kitt

Wie kann man der Verödung unserer Innenstädte beikommen? Handeln, bevor es „zu spät“ ist? Ja, aber der deutsche Gesellschaftsphilosoph Richard David Precht hat da noch eine konkretere These: kluge alte Ideen Pate stehen lassen für kluge neue Ideen.

Welche Verschlagwortung fällt einem zu „Deutsche Innenstadt“ ein? Freizeit – vielleicht. Aufenthaltsqualität – selten. Idylle – kaum. Weitsicht – da wird es dünn. Misswirtschaft – schon eher. Sie sehen: In diesem recht kritischen Blogartikel geht es um ein vielfach diskutiertes Thema. Und zwar auf Basis eines Dialogs zwischen dem Denker und Autor Richard David Precht und dem Präsidenten des Deutschen Städteverbands sowie Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung. Nicht gerade eine erhitzte Debatte, die da entbrannt ist; vielmehr ein interessanter Austausch mit Ideen und Argumenten, die gesellschaftlich relevant sind und uns alle gleichermaßen betreffen.

„Der große Sündenfall ist die autogerechte Stadt“, betont Jung und schließt sich damit im Geiste der gefeierten Forscherin und Autorin Katja Diehl an, die seit einem knappen Jahrzehnt mit dem Thema der alternativen urbanen Mobilität unter dem Dach der „AutoKorrektur“ beschäftigt. Spätestens seit der Corona-Pandemie steht fest: Stadt muss neu gedacht werden, Kommunen veröden nur dann, wenn es an kreativen Ideen zur Umnutzung mangelt. Die Pandemie hat in Deutschland gewirkt wie ein Kontrastmittel, aufgrund dessen schnell klar wurde: Wie früher der Einzelhandel von Ketten bedroht wurde, so dominiert heute der Onlinehandel den stationären.

Die autogerechte Stadt als „Sündenfall“

Handel durch Handel ersetzen, das geht nicht. Aber zum Thema Umnutzung ploppen in der Bundesrepublik immer mehr spannende Ideen auf, die der Disziplin des Urban Design ihren Namen geben. „Zugestellt, zugeparkt, zugebaut“ – laut Precht eines der größten Übel für das öffentliche Leben. Kommunen suchen Konzepte, die das Motiv, sich „in der Stadt“ aufhalten zu wollen, wieder zurück in unser Bewusstsein holen. Es entstehen immer mehr designierte Zonen, die mindestens den Individualverkehr einschränken, reine Fahrradstraßen, gar Spielstraßen. Ehemalige Büroräume werden zu Wohnflächen umgenutzt. Leerstehende Warenhäuser und Geschäftsflächen bieten eine Bühne für alternative Ideen. Erfolgreiche Beispiele dafür sind Projekte zwischen ehemaligen Gebäuden der Karstadt-Kette in Leipzig und Hamburg, die ihrerseits Impulse im akademisch-kreativen Bereich gesucht haben: Die Universität Leipzig etwa nutzt die großzügigen, offenen Flächen für Vorlesungen und Veranstaltungen, die Kreativ Gesellschaft Hamburg setzt sich für mehr diverse Kunst im öffentlichen Raum ein und unterstützt damit Low-Budget-Projekte von hoher gesellschaftlicher Relevanz wie Ateliers und Ausstellungsräume junger Kunstschaffender verschiedener Disziplinen.

Jung sagt: „Große Einkaufszentren saugen Aufmerksamkeit und Publikum ab“ – und dazu noch Charme und Vielfalt.

Geschichtlich gesehen, wird schnell klar: In den 50er- und 60er-Jahren dominierte der Dualismus „Schlafstadt“ versus „Arbeitsstadt“, der Wohngegenden strikt abtrennte, was heute noch deutliche Spuren in der Infrastruktur hinterlässt. In den 70er-Jahren kam das Konzept der Satellitenstädte hinzu, die ein strukturelles Ruhebedürfnis zu befriedigen wussten und es vermutlich auch heute noch tun.
Aber kommen wir zum Kern der Argumentation, dem Primat der Praxis. Kommunen haben erkannt, dass nicht nur ein faktischer Rückbau erfolgen muss, sondern auch eine Rückbesinnung. Precht erklärt das folgendermaßen – und geht geschichtlich noch viel weiter zurück: nämlich bis zur antiken Polis.

Stellt man die alteuropäische Stadt und den Prototypen der „City“ im Heute gegenüber, so merkt man schnell, dass es am gesellschaftlichen Kitt fehlt. Selbst wenn man das Bild von Stadtkultur damit „romantisiert“ (so Precht), landet man immer wieder bei den Kitt-Faktoren, die dafür nach wie vor unerlässlich sind: „Wohnen, Leben, Arbeiten, Erlebnis, Zusammenkunft“. Da eignet sich beispielsweise das Modell der „15 Minute City“, wie es zurzeit in Barcelona oder Paris erprobt wird. Danach ist alles, was mensch frequentiert, ist in 15 Minuten erreichbar. Es gilt „mobility first“ – das Auto wird dabei allerdings nicht mitgedacht. Wohl aber die berüchtigte Entwidmung der Straßen. Und Plätze, die nur Lebewesen zum Verweilen einladen.


… Oder Sie wagen selbst einen Deepdive ins Thema? Die „PrEcht“-Folge vom 06.06.2021 ist dauerhaft als Stream oder zum Download verfügbar.

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